Die Saga der Islandpferde

Treue Gefährten in rauen Zeiten

Als die ersten Siedler vor dem Jahr 1000 auf der Insel an Land gingen, brachten sie nicht nur Schafe und Habseligkeiten auf ihren kleinen Schiffen. Auch Pferde waren auf der gefährlichen Fahrt über die Nordsee dabei. Die frühesten Funde von Sattelzeug und Trensen stammen aus dem 10. Jahrhundert, als Island noch heidnisch war und die Menschen an den Gott Odin glaubten, der auf seinem achtbeinigen, schamanischen Pferd Sleipnir unterwegs war.

Die isländische Sagaliteratur steckt voller Geschichten über Pferde. Nicht nur als Transportmittel, sondern auch als Symbol für Reichtum und als Objekt der Begierde. Das berühmteste Beispiel ist wohl der Hengst Freyfaxi aus der Hrafnkelssaga. Niemand durfte ihn reiten. Als Hrafnkels Schäfer Einar das Verbot ignorierte, tötete Hrafnkel ihn, und eine folgenschwere Fehde nahm ihren Lauf.

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Tapfere Partner

Es waren kleine, untersetzte Pferde, die mit den Siedlern kamen. Und nervenstark  müssen sie gewesen sein, wenn man bedenkt, wie lange sie mit dem Schiff unterwegs waren. In den folgenden Jahrhunderten brachten Kaufleute weitere Pferde vom Kontinent, und die isländische Rasse entwickelte sich zu dem, was wir heute sehen: ein kleines, trittsicheres Reitpferd mit einem Stockmaß von ca. 138 cm, gutem Temperament und Vorwärtswillen, robust und belastbar, von freundlichem Charakter, und ein selbstständiges Herdentier. Islandpferde überlebten harte Winter, Hungerzeiten und Vulkanausbrüche. Zu allen Zeiten standen sie dem Menschen als Partner bei der Feldarbeit, der Ernte und dem Transport von Gütern wie Fisch, Holz, Heu oder Steinen treu zur Seite.

Das Auto setzte sich in Island erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Bis dahin trugen die Pferde den Menschen von einem Ort zum nächsten, durch Lavawüsten, Eis und Sand. Unermüdlich liefen sie endlose Entfernungen, passierten reißende Gletscherflüsse auf kleinen Booten oder schwammen hindurch. Heutzutage gestalten Maschinen das Arbeitsleben. Doch für eine Aufgabe ist das Islandpferd weiterhin unersetzlich: wie in den alten Zeiten hilft es dabei, die freilaufenden Schafe im Herbst aus den Bergen zu treiben. Bei dieser Arbeit kann man die starken Bande zwischen Mensch und Pferd immer noch spüren.

Über Jahrhunderte hinweg wurde das Pferd in Gedichten und Liedern besungen. Früher begrub man Pferde oft neben ihrem verstorbenen Besitzer, um ihrer engen Beziehung ein Denkmal zu setzen. Das ist heute natürlich verboten. Doch im Jahr 1920 verfügte ein Bauer in Südisland, daß er mit seinem Pferd beerdigt wird, am Fuß des Berges, auf dem sie oft unterwegs gewesen waren.

torsmorkTölt – die Gangart für weite Strecken
Das Islandpferd besitzt im Gegensatz zu anderen Pferderassen zwei Gangarten mehr: Tölt und Pass. Beim lateralen Vierschlaggang ‚Tölt‘ befindet sich immer nur ein Huf auf dem Boden. Tölt läßt den Reiter weich sitzen und ist ideal für weite Strecken. Der Zweischlaggang ‚Pass‘ wird für Rennen auf kurzen Strecken genutzt.
Snaefellsjokull_Hraunlandsrif 2ILundi-32m europäischen Mittelalter waren beide Gangarten so gut wie aus der Pferdezucht verschwunden, da sie sich nicht für Kutschpferde eigneten. In der unwirtlichen Landschaft Islands konnten Kutschen jedoch nie benutzt werden, und der Tölt hat in der Zucht überlebt. Aus dem 16. Jahrhundert ist das Interesse dänischer Schafhirten an Islandpferden überliefert – wegen ihres Tölts. An diesem Tölt erfreut sich auch der moderne Mensch, wenn er zum Vergnügen durch Islands atemberaubend schöne Natur reitet. Und wie früher nimmt man an Hochlandritten mit mindestens drei Pferden teil und wechselt das Reitpferd jede Stunde, um die Pferde frisch und willig zu halten. Wer nicht selber reiten möchte, kann sich in Shows und auf Turnieren von den Qualitäten dieser großartigen Pferde mitreißen lassen.

 

Die Athleten

Aus Seuchenschutzgründen  ist der Import von Pferden nach Island seit dem Jahr 1909 verboten.
In den fünfziger Jahren wuchs hingegen der Export der Rasse auf den Kontinent. In den Nachkriegsjahren kamen die Pferde zunächst als Arbeitstiere, später wurden sie als Reitpferde genutzt. Heute gibt es Islandpferde in nahezu allen europäischen Ländern, den USA und Neuseeland, ihre Gesamtzahl liegt weltweit bei 300.000.

In jedem zweiten Jahr findet eine Weltmeisterschaft statt, um die besten Pferde zu präsentieren. Ihr enormes Durchhaltevermögen hat die Rasse auch im Distanzsport populär werden lassen: eins der erfolgreichsten Distanzpferde Europas ist ein Islandpferd. Und in den USA hat der 27-jährige Islandwallach Remington vor drei Jahren seinen 209. 50-Meilen-Ritt erfolgreich absolviert. Er ist damit das Pferd mit der höchsten Laufleistung in der Welt des Pferdesports.

Die Pferde gehören zu Island wie der Wind und die Berge – farbenfrohe Herden, die auf endlosen Weiden grasen und den Elementen trotzen. Nichts kann friedlicher sein als ein sonniger Tag mitten unter ihnen. Und keine Freiheit fühlt sich größer an, als jahrhundertealten Pfaden durch Lavafelder und Flüsse auf dem Rücken eines Pferdes zu folgen. – DT

Kristján Ingi Einarsson